File 007 - Skandal im Ministerium(?)

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Leser der Bild-Zeitung lasen am 29. März 2000 in gewohnter Bild-deckt-auf-Manier mit dick gedruckten Lettern folgende Titel-Story auf der ersten Seite:

Familien-Ministerin vermittelt Callboys

Frauenministerin Christine Bergmann ist drin, im Internet - und schlittert gleich in einen Sex-Skandal. Ausgerechnet die für Familie, Frauen und Jugendschutz zuständige Ministerin stellt über ihre Homepage Kontakt zu Callboys, Agenturen für Seitensprünge sowie Anbietern für Pornos und Sex-Spielzeug her, vermittelt mithin Sex-Dienste. Der Skandal im Skandal: Internet-Besucher können sich sogar direkt von der Seite des Ministeriums (www.bmfsfj.de) zu Nacktfotos und Videos von jungen Mädchen ("Pornoteens ganz tabulos") durchklicken. Familienpolitiker von CDU und FDP sind entsetzt. Der Internet-Sex-Skandal - Seite 5.

Na, da schauen wir doch mal weiter auf Seite 5, wir, als aufgeklärte und gebildete Menschen, wollen ja nichts von dem Skandal verpassen:

Der Internet-Sexskandal um Frauenministerin Bergmann - jeder Besucher der Homepage wird über die "Links des Monats" an interessante andere Internetseiten verwiesen. Doch dort werden statt Regierungspolitik käuflicher Sex, Pornos und Sex-Spielzeug angeboten. [..]

Für den unbedarften Bürger, der das Internet nur aus negativen Erzählungen und Berichten kennt und nicht selbst nutzt, muss diese Meldung als Bestätigung der schlimmsten Befürchtungen und Ahnungen geklungen haben. Aber riecht diese Geschichte nicht auffällig streng? Gibt es bei den Betreibern der Website tatsächlich keinen, der pornografische Links bemerken und entsprechend schon im voraus reagieren würde? Und wieso entdeckt ausgerechnet die Bild-Zeitung so einen delikaten Skandal? Schauen wir uns die Sache doch einmal etwas genauer an...

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bietet auf seiner Homepage schon seit einiger Zeit einen Bereich an, auf dem so genannte "Links des Monats" veröffentlicht werden. Diese Links werden redaktionell ausgesucht und führen den/die Besucher/in auf Homepages im Internet, die weiterführende Informationen führen.

Ein solches Angebot, auf das das Ministerium verlinkt hatte, ist ein Webkatalog namens "Powercat", ein umfangreiches, nichtkommerzielles Webangebot, das sich speziell an Frauen richtet. Innerhalb von Powercat gibt es diverse Rubriken, eine davon nennt sich "Im Schlafzimmer". Dieser zweideutig verstehbare Rubrikname ist aber bei genauerem Betrachten recht eindeutig sachlich: Geboten werden, wie im ganzen Webangebot von Powercat, informative Links.

Der Aufhänger der Bild-Zeitung richtet sich direkt an die Unterrubrik "Infos über Callboys" und dort insbesondere an die Links, auf denen "die Besucher", laut Bild-Zeitung, "Andreas und Sven anklicken" können. Was die Bild-Zeitung hier verschweigt, ist die Tatsache, dass die Links hier zwar tatsächlich zu Seiten führen, in denen es sich um Callboys namens Andreas und Sven dreht, es sich aber um Reportagen und Buchbesprechungen handelt, die zudem in einem völlig anderen und unabhängigen Web-Angebot namens "CityWeb".

So richtig gefährlich wird es dem Redakteur des Beitrages in der Bild-Zeitung nun offensichtlich ab hier: Im nächsten Link geht es nämlich zu Homepages der Callboys, ebenfalls an einem anderen Standort im Internet. Dort wiederum geht es im nächsten Link zu einem Web-Angebot namens "Sexführer Deutschland", von hier dann tatsächlich zu diversen Hardcore-Pornoseiten. Rekapitulieren wir kurz: Wir haben nun, inklusive des Klicks auf den Link-Tipp Powercat auf der Seite des Bundesministeriums, insgesamt sechs mal Hyperlinks anklicken müssen und befanden uns jedes Mal in einem anderen Web-Angebot, dass mit der vorherigen Seite in keinster Weise verbunden ist, außer dem hinführenden Hyperlink. Rein objektiv betrachtet ist hier ein Skandal nur für absolute Laien vorhanden.

Dennoch kein Grund für Politiker, noch in weitere Fettnäpfchen zu treten: Die eilig befragte, stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Maria Böhmer zeigte sich "entsetzt", als sie feststellte, dass "man über die offizielle Behörden-Homepage des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Zugang zu harten pornografischen Sites im Internet hat". Und der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion Jürgen Koppelin forderte gar, "die Ministerin und ihr Haus zur Rechenschaft zu ziehen". Den Vogel abgeschossen hat jedoch der CDU-Familienpolitiker Hubert Hüppe, der es unerträglich findet, "dass sich die für den Jugendschutz zuständige Ministerin zum Handlanger für Callboys, Sex- und Pornoanbieter im Internet macht".

Sehr schön. Da haben wir auf der einen Seite einen völlig verdrehten "Tatsachenbericht" über einen "Porno-Skandal auf der Homepage des Bundesministeriums", der schon nach einmaligem Lesen nicht mehr als eine Ansammlung von lauwarmen und weitgehend zusammenhanglosen Wörtern darstellt. Und auf der anderen Seite Politiker der Oppositionsparteien, die, offensichtlich ohne sich die Mühe gemacht zu haben, sich einmal über die wahren Hintergründe zu informieren, gedankenlos in das Fettnäpfchen treten und Konsequenzen im Ministerium fordern.

Dabei hätte es der Redakteur der Bild-Zeitung sehr viel einfacher gehabt: Er hätte einfach z.B. auf die Homepage der CDU gehen können und hätte dort den Link auf die populären Suchmaschinen angeklickt. Dort hätte er dann eine Suchmaschine ausgewählt und als Suchwort z.B. "Sex", "Callboys" usw. eingegeben und wäre so vielleicht schon nach dem dritten Klick am Ziel gewesen, als umständlich nach sechs Klicks. Die "Informationsnähe" durch frei setzbare Hyperlinks, eine der Grundsäulen der freien Meinungsäußerung im Internet und fundamentales Element des World Wide Webs, macht es möglich.

Dieser schrille Vorgang zeigt allerdings einen erschreckenden Aspekt: Boulevard-Zeitungen und -Zeitschriften sind oft ihrer moralischen Verpflichtung, ihre Leser möglichst weitsichtig und wertefrei zu informieren, nicht bewusst. Für substanzlose Hetzkampagnen werden offenbar ohne große Recherchen internetspezifische Themen derart verdreht und falsch dargestellt, um mit dem alten Vorurteil "Internet = Pornografie" die größtenteils unwissende Leserschaft zu befriedigen.

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